Tag 4: Vordere Rotpitze, 3.033 m

13Kurze oder lange Hose? Diese Frage beschäftigte die Frühstücksrunde, mal abgesehen von Brötchen, Müsli und Kaffee. Draußen drohten noch dunkle Wolken mit einem eher feuchten Tag. In der Nacht hatte es so gegossen, dass sogar zwei vergessene Kaffeetassen auf einer Bierbank randvoll waren - mit Regenwasser.

 

Schnell waren nach dem Frühstück die Rucksäcke gepackt mit Pullover, Regenhose und -jacke, dazu noch Handschuhe und der Regenschirm. Schließlich sollte es hinauf gehen auf die Vordere Rotspitze, ein Gipfel mit 3.033 Meter Seehöhe. Von der Zufallhütte aus immerhin 769 Höhenmeter - doch es sollten mehr werden.

 

Raus also über die Hängebrücke des Schluchtenweges. Danach gab es nur noch eine Richtung: bergauf. Zunächst ging es noch über dicht bewachsene Hänge. Die nassen Pflanzen am Wegesrand störten allenfalls jene Wanderer, die sich für die kurze Hose entschieden hatten. Doch die Baum- und danach die Vegetationsgrenze war schnell erreicht. Der Pfad verlangte fortan nach Konzentration, führte über Steigungen voller Felsblöcke.

 

Ein Schriftzug an einer steilen Felswand schließlich warnte: „Seil.“ Gemeint war ein Stahlseil, das an der rechten Seite eines breiten Kamins den Weg zum Gipfel sicherte. Einige der Wanderer legten Klettergurte an und bildeten zusammen mit Bergführer Thomas Dempfle eine kleine Seilschaft. Langsam, aber stetig kämpfte sich die Gruppe nach oben, Schritt für Schritt über unwegsames Block-Gelände dem Gipfel entgegen.

 

Als das Gipfelkreuz zu sehen war, gab es kein Halten mehr. Nur noch wenige Meter, dann war der nächste 3.000er geknackt. Und er offenbarte einen sensationellen Blick auf die umliegenden Berge, viele von ihnen vergletschert. Zeit für das gemeinsame Gipfelfoto und eine zünftige Brotzeit. Das Wetter hatte übrigens ein Einsehen und schwenkte um in Richtung Wolkenlücken.

 

Die Welt der Gletscher lag den Wanderern zu Füßen. Doch beim Blick aus der Ferne sollte es heute nicht bleiben: Geplant war, die Marteller Hütte zu besuchen. Diese Alpenvereins-Schutzhütte ist umgeben von 15 Dreitausendern. Sie thront 2.610 Meter über NN hoch in der südlichen Ortlergruppe über dem Talschluss von Martell.

 

Von der Vorderen Rotspitze aus verlief die Strecke zunächst durch eine Mondlandschaft aus unzähligen achtlos verstreuten Felsblöcken und dann über mehrere Hügelketten. Bei dem nicht enden wollenden Auf und Ab summierten sich jede Menge Höhenmeter zu den bereits erwähnten 769 Metern für den ersten Aufstieg.

 

Danach aber erweiterte sich der jüngst gewonnene Eindruck vom Gipfel, führte die Strecke doch großteils über den sogenannten Gletscherlehrpfad. Dieser Weg ist für Naturfreunde, die sich für den Formenschatz der Gletscherwelt interessieren, wie ein Blick ins Lehrbuch der Glazialmorphologie.

 

Grund-, Seiten- und Endmoränen in ihrer Form vollendet. Dazu kamen Zungenbecken als glasklare Bergseen, in denen sich letzte Schneefelder spiegelten. Kurz: Hier war zu sehen, wie in diesen Bergen Oberflächenformen einst durch Gletscher und deren Schmelzwässer entstanden sind.

 

Allerdings waren und sind die Gletscher selbst, die diese raue Landschaft geprägt haben, weitgehend verschwunden. Die Ferner auf den Berghöhen erinnern als eher spärlicher Rest an die einzige Pracht der Eismassen, die hier gelegen haben.

 

Dennoch war der Rundumblick noch immer phänomenal - speziell von der Terrasse der Marteller Hütte aus, wo es unter anderem Kaiserschmarrn mit fünf Gabeln gab.

 

Der Abstieg zur Zufallhütte blieb dabei, wie die Tour dieses Tages es bestimmte: Er war steil, aber in einer dreiviertel Stunde geschafft. Den Rest des Tages bildete eine heiße Dusche gegen Muskelkater, ein kühles Bier gegen den Durst des Wanderns und das wie immer mehrgängige Abendessen.

 

Es war ein sehr schöner und eindrucksvoller Tag, übrigens mit kurzer wie mit langer Wanderhose. Morgen, so scheint es, lacht über allem wieder die Sonne.

 

Gehzeit 6,5 Stunden, Aufstieg 1.100 Höhenmeter, Abstieg 1.100 Höhenmeter, Länge 13 km

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