Text und Fotos: Claus-Georg Petri
Sonne, blauer Himmel. „Diese Überraschungstour ist kein Spaziergang“, sagt Thomas Dempfle, Chef der Bergschule Oase Alpin aus Oberstdorf, und schaut in die Runde. „Wir laufen heute eine Strecke, die ansonsten praktisch niemand kennt.“ Kaum sichtbar verschwindet ein Pfad im dichten Mischwald. „Den gehen wir jetzt“, sagt der Bergführer, „nachher leitet er uns steil hinauf – und dann sehen wir weiter.“
Gespannt macht sich die Gruppe auf den Weg. Nur wenige Meter, und der Wald mündet in eine eine blühende Bergwiese, ein Meer aus Rot und Lila, Blau, Gelb und Weiß. Steil führt ein schier unsichtbarer Pfad nach oben, führt in einen dunklen Wald voller hochgeschossener Tannen, massiver Bergahorne und nachwachsendem Gehölz.
Rutschig ist die Strecke, gut für Matschos: Tief bis zu den Knöcheln versinken die derben Bergschuhe bei jedem Schritt im Modder. So lange rechts und links Bäume stehen, kein Problem. Doch die Konzentration wird mehr und mehr gefordert, erst recht, als abschüssig glatt polierter Fels den Pfad säumt. „Passt hier gut auf“, mahnt Bergführer Thomas Dempfle. Ganz unten rauscht ein Bach.
Die Gruppe überschreitet, ohne es zu merken, irgendwo im Grün die Grenze nach Bayern. Weit zieht sich der Jägerpfad in das Tal hinein, gewinnt an Steigung. Links bauen sich senkrecht graue Wände auf, die Natur zeigt ihre Muskeln. Auch am Himmel: Das Blau scheint trügerisch, kündigt doch der Wetterbericht für den Nachmittag Gewitter an.
„Um vier soll es krachen“, weiß Helga. Sie ist mit ihren 74 Jahren die Seniorin der Gruppe, „dann sollten wir wieder unten sein.“ Ingwer, 73 und Senior von allen, sieht dem Ganzen gelassen entgegen. Beide wissen: Auf die Erfahrung von Thomas Dempfle kann sich die Wandergruppe verlassen.
Der leitet alle weiter bergauf: „Vesper gibt es erst oben am Gipfelkreuz“, sagt der Bergführer und tränkt sein schütteres Haar mit eiskaltem Bergwasser aus einer Quelle. Tatsächlich ist die Höhe von 1.659 Meter über NN schneller und auch einfacher erreicht als erwartet. Nach Norden reicht der Blick über den Bodensee hinaus. Gen Süden reihen sich unzählige Alpengipfel aneinander. Zum Teil hat die Wandergruppe sie schon unters Profil ihrer Bergschuhe genommen, Erinnerungen tauchen auf.
„Geht nicht zu nah an die Kante“, warnt Thomas Dempfle, „die Wand bricht mindesten 100 Meter senkrecht ab.“ Helga und Ingwer stehen am Gipfelkreuz für ein Seniorenfoto, fit wie sie sind.
Bei Brötchen, Nüssen, Äpfeln und Wasser zelebrieren alle die Mittagspause, liegen faul im Gras unterm Gipfelkreuz. Die Sonne meint es - noch - gut. Am Horizont indes türmen sich die ersten dunklen Wolken auf.
Dann heißt es abzusteigen – über den Steig der 99 Kehren. Der sei steil, hieß es, aber machbar. Na dann. Ob es nun wirklich 99 Spitzkehren sind, weiß keiner aus der Gruppe so genau, aber dieser Weg ist zugewuchert, glatt, führt über Bergwiesen und durch dichte Wälder – unterhalb der mindestens 100 Meter senkrechten Wand, auf der ganz oben das Gipfelkreuz in der Sonne aufblitzt.
Jeder Schritt giert nach Konzentration. Eine super Übung für die Trittsicherheit. Kaum einer, der nicht mal aufquietscht, weil er wegrutscht – mancher mit Bodenkontakt auf dem Hinterteil. Anstrengend, aber alles kein Problem.
So richtig glatt wird es erst ein Stück weiter, als uralte, ausgetretene Bohlen über eine sumpfige Wiese führen, beidseits nasser Schlick. Es kommt, wie es kommen muss: Eine Wanderin steht plötzlich bis kurz unter den Knien im Matsch, ein anderer landet bäuchlings im Modder – und flucht mindestens so saftig wie der Sumpf selbst. Passiert ist nichts, alle anderen lachen.
Zum Schluss, kurz vor der Wirtschaft, an der die Wanderung bei einem Bier zurück im Kleinwalsertal endet, waschen alle ihre Bergschuhe in einem Bach. Als alle im Schankraum sitzen, klatscht von außen der Regen gegen die Scheiben. Es donnert.
16 Uhr, Helga hatte recht. Thomas auch: Diese Überraschungstour war kein Spaziergang.
Gehzeit ca. 6 Stunden, Aufstieg 850 Höhenmeter, Abstieg 900 Höhenmeter, Länge ca. 13 km